Gesundheitsamt Berlin-Lichtenberg: Die Netzwerker
Niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen: Die typischen Vertreter des Gesundheitssystems kennt jeder Bürger. Über mangelnde Aufmerksamkeit von Politik und Medien brauchen sich diese Branchenzweige in der Regel auch nicht zu beschweren. Dagegen fristet der öffentliche Gesundheitsdienst schon fast ein Schattendasein. Dabei spielt er bei der Versorgung der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Wer beispielsweise das Gesundheitsamt in Berlin-Lichtenberg besucht, zuständig für die über 250.000 Einwohner des Bezirks, wird mit Sicherheit Begriffe wie Zusammenarbeit, Koordination, Kooperation oder Partnerschaft zu hören bekommen. Denn ob es um die Überwachung von Qualitäts-standards, um Prävention oder um Beratung geht: In vielen Gesundheitsfragen laufen hier die Fäden zusammen.
Eine Abteilung des Gesundheitsamtes trägt den Vernetzungsgedanken schon im Namen: Die Planungs- und Koordinierungsstelle. Hier arbeiten Dr. Sandra Born und Dr. Roland Scheil. Beide sind – wie man vielleicht vermuten könnte – keine Mediziner, sondern haben im Bereich der Sozialwissenschaften promoviert. Damit sind sie für ihre Aufgabe gut gerüstet, denn sie arbeiten an einer Schnittstelle oder neu-deutsch: Interdisziplinär. Das ergibt sich schon daraus, dass die Abteilung sehr eng mit der Politik zusammenarbeitet, in Berlin-Lichtenberg ist das die zuständige Stadträtin beim Bezirksamt. „Wir haben hier eher eine Art Management-Funktion, keine klassischen Verwaltungsaufgaben“, erklärt Born ihre Arbeit. Sie ist innerhalb der Abteilung für Gesundheitsförderung und -berichterstattung zuständig.
Zur Berichterstattung gehört beispielsweise die statistische Auswertung der Einschulungsuntersuchungen. Diese werden vom Gesundheitsamt bei allen Kindern durchgeführt, die – der Name verrät es schon – eingeschult werden. So wird überprüft, wie es um ihre allgemeine Gesundheit bestellt ist und ob die Kinder schultauglich sind oder ein besonderer Förderbedarf vorliegt. Aus solchen statistischen Auswertungen werden dann konkrete Projekte entwickelt. „Als wir zum Beispiel festgestellt haben, dass wir mehr Sprachförderung brauchen, haben wir daraus ein Vorlese-Projekt entwickelt und Freiwillige als Lesepaten an Schulen und andere Einrichtungen vermittelt“, erklärt Born. Das ist der klassische Weg: Bedarf erkennen, Projekt entwickeln, Beteiligte vernetzen. „Unser Ziel ist es aber, die Umsetzung von einmal gestarteten Projekten mittelfristig an Kooperationspartner abzugeben. Sonst könnten wir das nicht alles stemmen.“
Auf gute Kooperation ist auch Borns Kollege Roland Scheil angewiesen. Seine Fachgebiete sind die psychosoziale Koordination und die Suchthilfe. Dahinter verbergen sich etwa die Organisation des fachlichen Austauschs und die Qualitätsprüfung von den Trägern der entsprechenden Einrichtungen. Um das zu gewährleisten, muss viel Gremienarbeit geleistet werden. „Der Austausch mit den Beteiligten innerhalb aber auch außerhalb des Bezirks gehört zur notwendigen Routine. Erst diese Kontakte machen viele unserer Projekte möglich“, sagt Scheil. „Seit 2009 gibt es beispielsweise das Filmprojekt ‚Irrsinnig menschlich‘, bei dem wir populäre Filme zeigen, die sich auf die eine oder andere Weise mit psychischen Erkrankungen beschäftigten. Im Anschluss können die Besucher mit Experten
und Betroffenen diskutieren. Das ist Prävention und Aufklärung im besten Sinne. Ohne die Unterstützung unserer Kooperationspartner – in diesem Fall ein Krankenhaus und ein Kinobetreiber – könnte es das nicht geben, denn das Geld ist immer knapp.“
Von knappem Geld kann auch Renate Eichner einiges erzählen. Sie ist Gruppenleiterin der Haushalts-, Wirtschafts- und Rechnungsstelle im Gesundheitsamt Lichtenberg und damit dafür zuständig, dass das Budget von zehn Millionen Euro pro Jahr ausreicht. Zehn Millionen Euro – Personalkosten inklusive – klingt
im ersten Moment viel. Umgerechnet sind es gerade mal knapp 40 Euro pro Jahr und Einwohner des Bezirks. Angesichts der vielfältigen Aufgaben des Gesundheitsamtes ist das nicht viel, zumal es nicht nur um den laufenden Betrieb geht. Der Zustand der Gebäude und der Büros lassen in einigen Fällen nicht unbedingt vermuten, dass hier ausgerechnet das Gesundheitsamt seine Räume hat: Eine Sanierung wäre dringend erforderlich. Und noch immer sind nicht alle Arbeitsplätze mit Computern ausgestattet.
„Als ich 2002 hier angefangen habe, gab es in unserem Haushalt ein dickes Minus“, erinnert sich Renate Eichner. Also machte sie sich daran, die Dinge neu zu ordnen und zu sparen, wo es eben ging. Die Beschaffung wurde umgestellt und auch der eine oder andere ungewöhnliche Weg beschritten. „Einmal bekamen wir einen Anruf, dass in einem Bundesministerium gerade die Möbel ausgetauscht wurden. Die alten Stücke waren noch gut in Schuss, sollten aber trotzdem entsorgt werden. Innerhalb von einer Stunde haben wir den Transport organisiert und die Möbel zu uns geholt. Das hat schätzungsweise über 5.000 Euro gespart“, erklärt Eichner mit ein wenig Stolz in der Stimme.
Diese Freude ist nachvollziehbar, wenn man von den Beschäftigten hört, wie lange um jede Investition gerungen werden muss. So ging es auch Gisela Glaser-Paschke, bis sie schließlich ein neues Röntgengerät für das von ihr geleitete Zentrum für tuberkulosekranke und -gefährdete Menschen bewilligt bekam. Diese Abteilung gehört zwar zum Gesundheitsamt Lichtenberg, ist aber für ganz Berlin zuständig. „Wir brauchen die moderne Ausstattung“, erklärt Glaser-Paschke. „Die alten Geräte verbreiten zu viel Strahlung und außerdem haben fast alle unsere Partner in den Krankenhäusern bereits auf digitale Röntgenbilder umgestellt. Wenn wir die neuen Geräte haben, wird das die Zusammenarbeit erheblich erleichtern.“ Das ist auch erforderlich, denn in den letzten Jahren stiegen die gemeldeten Fälle von der im schlimmsten Fall tödlichen Infektionskrankheit in Berlin wieder, nachdem die Tuberkulose (TB) jahrelang auf dem Rückzug war. 2011 waren es allein 320 neue Fälle.
Nicht immer handelt es sich um „offene“, also ansteckende Tuberkulose, aber trotzdem muss bereits jeder Verdacht dem Gesundheitsamt gemeldet werden. „Viele
Menschen halten TB für ausgestorben. Tatsache ist aber, dass sie wieder vermehrt auftritt und besonders die sozial Schwachen und Schwächsten trifft“, weiß Glaser-Paschke zu berichten. Die Arbeit ihrer Abteilung besteht deshalb einerseits aus der medizinischen Untersuchung und Behandlung, andererseits aus sehr viel Sozialarbeit. „Die Behandlung von Tuberkulose ist sehr langwierig, dauert mindestens sechs Monate.
Zudem verursachen die nötigen Antibiotika teilweise starke Nebenwirkungen. Der Abbruch der Behandlung ist aber gefährlich, weil dadurch Resistenzen gegen die Medikamente entstehen können. Da muss man eng an den Menschen dran bleiben, um sie während dieser Phase zu unterstützen“, sagt Glaser-Paschke. „Das dient dem Schutz der Betroffenen ebenso wie dem Schutz der Bevölkerung.“ Das die Sache ernst ist, zeigen auch die möglichen Konsequenzen: Widersetzt sich ein mit ansteckender „offener“ Tuberkulose Infizierter dauerhaft der Behandlung, kann er per Gerichtsbeschluss zwangsweise in eines von zwei auf diese Fälle spezialisierten geschlossenen Krankenhäuser in Deutschland eingewiesen werden. „Das ist aber die Ausnahme. Die meisten Menschen wollen ja, dass ihnen geholfen wird“, sagt Glaser-Paschke.
Neben der Hilfe für die Erkrankten ist das Auffinden und Unterbrechen der Infektionsketten die aufwändigste Arbeit. Bei einer erkrankten Person können leicht mehrere Dutzend weitere Personen zusammenkommen, mit denen dieser – nach bestimmten Kriterien definiert – in Kontakt gekommen ist. Sie alle müssen angeschrieben und zu einer Untersuchung eingeladen werden. 2011 kamen so über 6.000 Kontaktuntersuchungen zusammen. „Dabei sind wir hier nur vier Mediziner, wobei ich als Leiterin eigentlich nur halb zähle, weil ich viel administrative Aufgaben zu erledigen habe“, erklärt Glaser-Paschke. Und Nachwuchs ist schwer zu bekommen. „Die Gehaltsunterschiede zum Klinikpersonal sind schon beträchtlich. Das lässt sich auch mit guten Möglichkeiten für Teilzeitarbeit nicht ganz kompensieren.“
Von Schwierigkeiten bei der Nachwuchsgewinnung weiß auch Christina Leimbach zu berichten. „Meine Tochter studiert Medizin und findet unsere Arbeit nicht besonders attraktiv“, sagt die Leiterin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes. „Sie sagt, sie möchte lieber ‚richtige‘ Ärztin werden.“ Solche Vorurteile sind für Leimbach nichts Neues, sie trifft bei Ärzten und Psychologen immer mal wieder auf diese Einstellung. „Ich schätze die Arbeit hier, denn wir können uns – anders als zum Beispiel viele niedergelassene Ärzte – ohne Kostendruck durch das Krankenkassensystem ganz auf die Menschen konzentrieren, die unsere Hilfe suchen“, hält Leimbach dagegen.
Meist sind es die Eltern, die ihre Kinder wegen Verhaltensauffälligkeiten aller Art vorstellen. Wennn sie sich mit der Bitte um Hilfe und Rat an Leimbach und ihr Team wenden, wird zunächst ein erstes Gespräch mit den Kindern und Eltern geführt. Dabei versuchen die Psychologen, Sozialarbeiter und Ärzte ein Bild davon zu gewinnen, was genau das eigentliche Problem ist. Wie nehmen die Eltern das wahr, wie ist die Selbstwahrnehmung des Kindes? Wie sieht das soziale Umfeld aus, insbesondere die Familienverhältnisse? Wenn nötig, werden ergänzend – nach standardisierten Verfahren – Leistungsfähigkeit oder Entwicklungsstand der Kinder überprüft. Am Ende wird dann ein Plan entwickelt, wie dem Kind durch gezielte Maßnahmen, zum Beispiel eine Therapie, geholfen werden kann. Auch für Leimbach und ihr Team ist dabei die Arbeit im Netzwerk ganz wichtig. „Zunächst ist natürlich entscheidend, dass unser eigenes kleines Team hier gut funktioniert. Das ist aber kein Problem, wir haben eine sehr familiäre Atmosphäre“, erklärt sie. „ Zweitens arbeiten wir natürlich eng mit dem Umfeld der Kinder zusammen, also beispielsweise den Schulen aber auch mit niedergelassenen Ärzten und mit anderen öffentlichen Stellen wie dem Jugendamt.“
Bei der Kooperation mit Partnern scheut man sich beim Gesundheitsamt Berlin-Lichtenberg auch nicht, neue Wege zu beschreiten. So etwa im Bereich der Suchtberatung. Im Normalfall wird diese in Berlin an Einrichtungen von freien, also privaten Trägern geleistet. Nur hoheitliche Aufgaben, wie etwa die Zwangseinweisung in eine Klinik, übernimmt der Sozialpsychiatrische Dienst des jeweiligen Gesundheitsamtes. In Hohenschönhausen, dem nördlichen Teil des Bezirks Lichtenberg, hat man ein anderes Modell gewählt: Hier gewährleisten das Gesundheitsamt und ein freier Träger gemeinsam die Suchtberatung. Für Peter Graul, den Leiter der Dienststelle an der Oberseestraße, liegen die Vorteile klar auf der Hand: „Wir wollen eine lückenlose Betreuung erreichen. Zu uns kommen Menschen mit teilweise erheblichen Problemen. Die wollen ihre persönliche Geschichte nicht fünf verschiedenen Personen in unterschiedlichen Einrichtungen erzählen. Durch unsere Organisationsstruktur sind wir einfach in vielen Fällen näher dran an den Menschen.“ Probleme durch die Vermischung von öffentlichem Dienst und freiem Träger sieht Graul nicht. „Bei uns gilt ohnehin das Vier-Augen-Prinzip, die einzelnen Fälle werden also immer von zwei Personen begleitet. Wir achten einfach darauf, dass das jeweils ein Vertreter des Gesundheitsamtes und ein Vertreter des freien Trägers ist.“
Diese Praxis führt zu Kontinuität, die für die Arbeit wertvoll ist. „Die größte Gruppe der Suchtmittelabhängigen sind die Alkoholabhängigen. Aber wir haben auch mit neuen Formen zu tun, beispielsweise Online-Sucht. Gemeinsam ist allen, dass die Rückfallgefahr groß ist. Deshalb müssen wir kurzfristig auf Krisen reagieren“, erklärt der Diplom-Psychologe Graul. Für ihn und sein Team geht es in den meisten Fällen zunächst darum, die Hilfesuchenden zu stabilisieren.
Erst dann kann in einem späteren Schritt eine Abstinenz erreicht werden. Graul sagt: „Erfolg ist bei der Arbeit mit Suchtkranken schwer zu definieren. Ich werte eigentlich jeden Kontakt als Erfolg, denn das ist die Grundlage für alles Weitere.“
Jeden Kontakt als Erfolg werten. Auf die Menschen zugehen. Diese Marschroute zieht sich wie ein roter Faden durch das Gesundheitsamt. Von der Prävention bis zur akuten Hilfe: Hier wird vernetzt, beraten, geholfen. Dafür hätte der öffentliche Gesundheitsdienst weniger Schattendasein und mehr Scheinwerferlicht verdient.