Berlin sucht dringend Ärzte für Gesundheitsämter
Berlin wächst, die Stadt braucht neben neuen Wohnungen, Bahnen, Schulen eben auch: mehr Ärzte. Und zwar nicht nur in den Praxen und Kliniken, die als erste und zweite Säule des Gesundheitswesens bezeichnet werden. Denn neben zehntausenden Zuzüglern im Jahr, die gemeinhin als sozial abgesichert gelten, kommen nach wie vor Flüchtlinge, Obdachlose, letztlich Hilfsbedürftige aller Art in die Stadt. Zudem stiegen bei den Alteingesessenen die Geburtszahlen – alles Gründe, weshalb zunehmend die dritte Säule des Gesundheitswesens beansprucht wird: die Gesundheitsämter.
Fast 560 Ärzte, Pädagogen, Übersetzer, Therapeuten gesucht
Zwölf – eines pro Bezirk – gibt es davon in Berlin. Nach Berechnung des Senats fehlen dort insgesamt fast 560 Mitarbeiter. Bezogen auf die derzeit knapp 1480 besetzten Stellen wäre demnach ein Zuwachs von fast 40 Prozent notwendig. Schon heute hätten eigentlich 1630 Planstellen in den Gesundheitsämtern besetzt sein müssen. Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) kündigte am Dienstag an, mehr als 400 weitere Posten besetzen lassen zu wollen: Senat und Bezirke suchen in den kommenden ein bis zwei Jahren folglich hunderte Ärzte, Therapeuten, IT-Leute, Sozialpädagogen, Übersetzer.
Am Ende soll es 2033 Vollzeitstellen geben, wobei es sich in der Praxis um deutlich mehr Teilzeitstellen handeln dürfte. Das alles wird schwierig, klappt es doch seit Jahren nicht, ausreichend Fachleute in die Verwaltung zu locken. Die Posten in den Ämtern sind zwar sichere Arbeitsplätze, es wird auch nach Tarif bezahlt. Nur bringt gerade letzterer Probleme mit sich.
Im Gesundheitsamt gibt es 1000 Euro weniger als in der Klinik
Ein Facharzt mit mehrjähriger Berufserfahrung erhält in einem Bezirksamt im Monat 1000 Euro weniger, als ein ranggleicher Arzt in der Klinik nebenan. Weshalb fast 50 der aktuell eingeplanten 315 bezirklichen Arztstellen unbesetzt sind. Im Ergebnis wird manche Untersuchung verschoben, die Hygienekontrollen womöglich verknappt, einige Suchtberatungen nicht durchgeführt – und das alles, während öffentlich über mehr Obdachlose im Tiergarten, massive Verwahrlosung rund um den Strich an der Kurfürstenstraße und die maroden Schulen in Berlin diskutiert wird.
Ausgerechnet im Gesundheitsamt in Mitte, wo sich neben Bundespolitikern, Besuchern und Beamten auch immer mehr Stricher, Obdachlose, Gestrandete aufhalten, sind zwölf der 36 ärztlichen Stellen nicht besetzt. Matthias Brockstedt, ärztlicher Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes, findet keine Kandidaten, die diese Jobs in dieser nicht ganz einfachen Stadt machen wollen. Im Gesundheitsamt Mitte werden im Jahr 16 000 Termine mit Kindern und Jugendlichen absolviert. Aber fast alle zwölf Ämter kommen nicht hinterher: Während die Kliniken schwere, oft stationäre Fälle und die Praxen ambulante Patienten versorgen, kümmern sich die Ämter um Hygiene in öffentlichen Einrichtungen, Impfungen, Seuchenbekämpfung, Suchtprävention und die oft unversicherten Wohnungslosen.
Lassen sich Berliner Beschlüsse gar nicht in Berlin umsetzen?
Auch für sich selbst sucht Mediziner Brockstedt seit fast einem Jahr einen Nachfolger. Er bekommt rund 6700 Euro brutto im Monat, der 65 Jahre alte De-facto-Chefarzt führt 85 Mitarbeiter. In Kliniken erhalten ranggleiche Ärzte das Doppelte. Im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag liest sich das anders: Ärzte sollen in Ämtern demnach so bezahlt werden wie in Kliniken. Senatorin Kolat hat sich dafür wohl auch bei ihrem Kollegen für Finanzen, Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) eingesetzt. Nur entschied der offenbar mit dem Segen der Gesamtkoalition: Das Land verhandelt nicht mit den Ärzten über ein neuen Tarif in den Ämtern, es wartet lieber auf eine Bundeslösung. Das dauert, denn die demnach zuständige Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), der Berlin – im Senat ist man stolz – seit 2013 wieder angehört, könnte sich mit Verweis auf Hamburg noch Zeit lassen: Dort werden die Ärzte in den Ämtern ebenfalls nach dem TdL-Tarif bezahlt, sie bekommen aber einen Zuschlag von der Stadt, der die Lücke zu den Krankenhauslöhnen schließt.
Bei der Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB) wundert man sich deshalb, dass die Berliner Koalition offenbar Vorhaben beschließt, die nur bundespolitisch umzusetzen wären. Vom Senat fordere man, sagte MB-Landesgeschäftsführer Reiner Felsberg, die Mediziner nach dem in Kliniken gültigen Tarif zu bezahlen. Schon heute könnten die Bezirke nicht mehr alle Pflichtaufgaben voll erfüllen – nun noch Dutzende neuer Ärzte zu finden, dürfte angesichts der Tariflage fast aussichtslos sein. Gesundheitssenatorin Kolat sagte am Dienstag vorsichtig: Abwarten, was der Finanzsenator aus den Gesprächen in der TdL berichten wird.
Quelle: Der Tagesspiegel 24.10.2017