Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) entstand in der Zeit des Nationalsozialismus primär als Selektionsapparat im Rahmen einer rassistischen, menschenverachtenden Biopolitik, die die Tradition sozialmedizinischer Prinzipien und einer am Wohl des Einzelnen orientierten Gesundheitsfürsorge und -vorsorge nachhaltig vernichtete. Das Reichsgesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens von 1934 (GVG) mit seinen drei Durchführungsverordnungen wirkte auch ohne die 1945 entfernte „Erb- und Rassenpflege“ nicht nur als Organisationsrahmen, sondern auch inhaltlich prägend auf Strukturen und Aufgabenfelder des ÖGDs der Bundesrepublik Deutschland bis ins 21. Jahrhundert. Erst 2006 setzte der Bundestag das Gesetz außer Kraft.
In den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik war es offenbar den damals tonangebenden Amtsärzten im ÖGD nicht möglich, über die Beteiligung am NS-Unrecht öffentlich zu reflektieren. Seit etwa 15 Jahren beschäftigt diese bisher so wenig aufgearbeitete unselige Vergangenheit des ÖGDs viele Amtsärztinnen und Amtsärzte. Deshalb setzte der geschäftsführende Vorstand des BVÖGDs in 2013 die Arbeitsgruppe „Der Öffentliche Gesundheitsdienst in der Zeit des Nationalsozialismus“ zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des ÖGDs ein. Der Auftrag lautete, ein medizinhistorisches Projekt zu initiieren, das die Rolle des ÖGDs im Nationalsozialismus näher erhellt.
Nachdem sich bereits das Robert-Koch-Institut mit Unterstützung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) intensiv mit der eigenen Rolle in der NS-Zeit befasst hatte, begrüßte das BMG die Gründung der Arbeitsgruppe ausdrücklich und gewährte großzügige Fördermittel für die geplante Studie. Das Land Baden-Württemberg und der BVÖGD beteiligten sich ebenfalls an der finanziellen Förderung.
Nach einer beschränkten Ausschreibung beauftragte der geschäftsführende Bundesvorstand des BVÖGDs in 2014 das Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité Berlin, vertreten durch Prof. Sabine Schleiermacher mit der Umsetzung des Forschungsprojektes.
Sukzessive erfolgt mittlerweile von immer mehr Behörden und Berufsverbänden auf Bundes- und Landesebene eine Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit. Dies ist für viele kommunale Gesundheitsämter aufgrund häufig mehrerer Gebietsreformen in den letzten Jahrzehnten und oftmals noch dezentraler Aktenaufbewahrung ungleich schwerer. Gleichwohl ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit dringend notwendig, da das damalige Verhalten des ÖGDs eine gewaltige Zäsur für Sozialmedizin und Public Health in Deutschland zeitigte.
Als Auftakt zu dem medizinhistorischen Projekt organisierte die Arbeitsgruppe eine Vorkonferenz zum 63. Wissenschaftlichen Kongress des BVÖGD im April 2013 in Berlin. Dieses Symposium war dem eigentlichen Bundeskongress vorgeschaltet und zeitigte neben hohem Besucherinteresse auch eine positive Resonanz im Deutschen Ärzteblatt.
Im Januar 2015 begann die konkrete Projektarbeit und wurde Ende 2016 abgeschlossen. Die Forschungen konzentrierten sich auf die damaligen Länder Thüringen und Württemberg. In diesen beiden Regionen arbeiteten die Historiker das Wirken der einzelnen administrativen Strukturen in der damaligen Gesundheitsverwaltung heraus. Das Augenmerk galt dabei insbesondere der konkreten Umsetzung der nationalsozialistischen „Erb- und Rassenpflege“ in der unteren Verwaltungsebene, den neu gegründeten Gesundheitsämtern unter staatlicher Kontrolle.
Im Mai 2017 stellten Prof. Sabine Schleiermacher und Sven Kinas vom Institut für Geschichte der Medizin der Charité Berlin auf dem 67. Wissenschaftlichen Kongress des BVÖGDs „Gesundheit für Alle“ in München in einem Symposium die akribisch recherchierten Befunde ihres medizinhistorischen Projektes vor.
Der geschäftsführende Vorstand des BVÖGDs nahm diese Forschungsergebnisse zum Anlass, um in einer Erklärung eindeutig Stellung zur NS-Vergangenheit des ÖGDs zu beziehen und betonte die daraus resultierende Verantwortung für die Zukunft.