Fachliche Stellungnahmen

Stellungnahme

Falldefinitionen gemäß § 4 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz

A. Allgemeine Anmerkungen
Der BVÖGD unterstützt die Aktualisierung der Falldefinitionen, die nicht nur unter dem Aspekt neuer Erkenntnisse in den Bereichen Infektiologie, Mikrobiologie und Epidemiologie, sondern auch vor dem Hintergrund der zum 20.04.2013 neu eingeführten namentlichen Meldepflicht für Mumps, Röteln inkl. Rötelnembryopathie und Varizellen erforderlich ist. Allerdings hält der BVÖGD den vom RKI gewählten Ansatz mit Blick auf die geplante Inkraftsetzung zum 01.01.2014 und die inhaltliche Gestaltung der Falldefinitionen aus verschiedenen Gründen für kritikwürdig:

a) Die Falldefinitionen gemäß § 4 Abs. 2 IfSG sind ein zentrales Element des deutschen Surveillancesystems und daher für die Arbeit der Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitsdienst, insbesondere auf der Ebene der Gesundheitsämter, von entscheidender Bedeutung. Der BVÖGD hätte daher gerne seine Mitglieder in den Gesundheitsämtern in die Bewertung der überarbeiteten Falldefinitionen eingebunden, angesichts der vorgegebenen Bearbeitungszeit bis ursprünglich 11.10.2013 und dem zeitgleichen Beginn der Herbstferienperiode dafür jedoch keine realistische Chance gesehen. Die nachfolgende Stellungnahme stützt sich daher vornehmlich auf die Rückmeldung aus einzelnen Landesverbänden und ist somit nicht als vollständig oder gar abschließend einzustufen.

b) Der BVÖGD sieht darüber hinaus die zunehmende Komplexität der Falldefinitionen mit Sorge. Beispielhaft sei auf die Unterscheidung von spezifischen und unspezifischen Krankheitsbildern bei verschiedenen Übermittlungskategorien hingewiesen. Die Einführung solcher Elemente erfordert spezielle Einweisungen für die betroffenen Mitarbeiter, die jedoch angesichts der Zeitachse nur als unrealistisch zu betrachten ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu stellen, inwiefern diese Zielgruppe sowohl von der ICD10-Kodierung als auch von der Gegenüberstellung zwischen RKI- und EU-Falldefinitionen profitiert. Hier sollte dringend überdacht werden, inwiefern die Lesbarkeit und das Verständnis der 2 / 6 Falldefinitionen nicht durch Weglassen (oder zumindest Auslagerung, z. B. in einen Anhang) verbessert werden kann.

c) Hinzu tritt der Umstand, dass die Implementierung der neuen Falldefinitionen umfangreiche Anpassung der benutzten Softwarestruktur vor Ort notwendig macht. Dem BVÖGD liegen jedoch Rückmeldungen aus verschiedenen Landesverbänden vor, nach denen auch der aktuell gültige Stand der Falldefinitionen von verschiedenen kommerziellen Softwareanbietern bislang nur sehr bedingt umgesetzt wurde. In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine flächendeckend standardisierte Bewertung von Meldedaten hinsichtlich der Übermittlung bislang nicht erfolgen kann und dieser kritikwürdige Umstand mit der Einführung neuer Falldefinitionen zum 01.01.2014 noch verschärft werden wird.

d) Inhaltliche Änderungen der Falldefinitionen führen zu Veränderungen der Infektionsstatistik auf allen föderalen Ebenen in Deutschland. Angesichts der vierten Überarbeitung der Falldefinitionen seit Einführung des Infektionsschutzgesetzes 2001 sind daher Unterschiede in der Sensitivität und Spezifität bei einzelnen Meldekategorien wahrscheinlich. Der BVÖGD hält aus diesem Grund eine Zusammenstellung der Zeitpunkte von Änderungen der Falldefinitionen und die davon ausgehenden inhaltlichen Auswirkungen auf die Infektionsstatistik durch das RKI als Grundlage für eine korrekte Interpretation der Meldedaten für sinnvoll.

e) Die vierte Ausgabe der Falldefinitionen bezieht sich auf nunmehr 60 Meldekategorien. Der BVÖGD wiederholt an dieser Stelle seine bereits mehrfach geäusserte Kritik an dem Umfang der IfSG-Meldepflichten und dem zusätzlich von den Falldefinitionen ausgehenden Ermittlungsaufwand. Die angespannte Personalsituation v. a. auf der Ebene des kommunalen und zunehmend auch des Landes-ÖGD bedingt schon jetzt, dass das große Spektrum der Pflichtaufgaben (nicht allein) im Bereich des Infektionsschutzes mit einem eher kleiner werdenden Personalbestand in vielen Gesundheitsämtern nicht mehr abgedeckt werden kann. Somit führt eine Ausweitung der IfSG-Meldepflichten und ein gesteigerter Ermittlungsaufwand (z. B. hinsichtlich der Impfanamnese, vgl. Varizellen) bei der Bewertung der Übermittlungspflicht weder zu einer Verbesserung der Qualität von Meldedaten noch zu dem vom Infektionsschutzgesetz gewünschten Ergebnis, das die (Früh-) Erkennung von Häufungen flächendeckend optimiert wird und fallbezogene Maßnahmen gegen eine Ausbreitung sach- sowie zeitgerecht ergriffen werden können.

B. Spezielle Anmerkungen

Nachfolgend wird zu einzelnen Aspekten bei der Überarbeitung der Falldefinitionen Stellung genommen:
a) Die Version vom 23.09.2013 enthält zahlreiche Schreibfehler, z. B. auf den Seiten 12 (fehlender Bindestrich bei „klinisch epidemiologisch“, fehlendes „r“ bei „vezichtet“), S. 15 ( fehlendes „s“ bei „spezifiche“), S. 17 (fehlendes „n“ bei „geannt“), S. 18 (fehlendes „t“ bei „gehäufe“, Buchstabendreher bei „Infekitonen“), etc. Außerdem fehlt z. B. auf S. 17 die Ergänzung der gesetzlichen Grundlage hinter „gemäß“.

b) Die Komplementbindungsreaktion (KBR) wird auf S. 5 als Beispiel für eine deutliche Änderung zwischen zwei Proben angeführt. Jedoch wird an vielen anderen Stellen der Falldefinitionen darauf hingewiesen, dass die KBR nicht mehr gebräuchlich ist.
c) Bei der Definition des „Krankheitsbedingten Todes“ auf S. 6 bleibt unklar, wie der krankheitsbedingte Tod definiert ist und welche „Hinweise“ dort akzeptiert werden können. Als Folge ist nicht nachvollziehbar, warum bei krankheitsbedingtem Toddie Überprüfung der klinischen Kriterien nicht mehr erforderlich ist. Weiterhin ist irritierend, dass der krankheitsbedingte Tod bei manchen Meldekategorien unter das spezifische klinische Bild fällt und bei anderen Meldekategorien unter das unspezifische.

d) Die Notwendigkeit für die neu eingeführte Unterscheidung zwischen spezifischemund unspezifischem klinischen Bild bei einigen Meldekategorien kann aufgrund des Textes auf S. 15 nicht nachvollzogen werden. Folgerichtig müssten die(ohnehin schwer verständlichen) Tabellen auf den Seiten 15 und 16 um diese Unterscheidung ergänzt werden. Auch im Hinblick auf die Anmerkung A b) wird empfohlen, auf die Unterscheidung zwischen spezifischem und unspezifischem klinischen Bild zu verzichten.

e) Eventuell wäre es auf S. 17 ratsam, unter dem Punkt „Weitergehende Meldepflicht“ einen Hinweis auf die „Weiteren bedrohlichen Krankheiten“ (WBK in der Übermittlungssoftware), die aus § 6 Abs. 5 zusätzlich hervorgehen sowie gleichartige bedrohliche Infektionen einzufügen mit einem Hinweis, wo auf den RKI-Seiten zusätzliche Falldefinitionen zu finden sind (z.B. SARS, MERS, Av. Influenza; ggf. CCHV und West-Nil-Fieber).

f) Bei den Labormethoden ist zu überlegen, ob das MALDI-TOF-Verfahren aufgrund des zunehmenden Einsatzes als Erweiterung der Kultu
rverfahren in der mikrobiologischen Praxis nicht auch Berücksichtigung finden sollte.
g) Bei Botulismus auf den Seiten 21 und 22 erfüllt bereits das klinische Bild die Falldefinition. Das klinische Bild seinerseits wird auch bei dem Vorliegen einzelner Kriterien definiert, z.B. allein aufgrund des Kriteriums „Dyspnoe“. Mit anderen Worten wäre eine unspezifische Dyspnoe als Symptom ausreichend, um einen übermittlungspflichtigen Botulismus-Fall zu definieren.
h) Für die respiratorische Diphtherie auf S. 38 sind ein spezifisches und ein unspezifisches klinisches Bild definiert. Bei den Übermittlungskategorien wird nicht in jeder Kategorie angegeben, ob jeweils das spezifische oder unspezifische klinische Bild gemeint ist (z.B. Kategorie C).
i) Bei der EHEC-Erkrankung wird auf auf S. 41 ausgeführt: „Der alleinige Nachweis des Shigatoxins mittels ELISA
in
der
Stuhlanreicher
ungskultur
(Screeningverfahren) gilt nicht als labordiagnostis
cher Nachweis.“ Es sollte
erwogen werden, diesen Nachweis anzuerkennen, da es
das in der Praxis
angewendete Verfahren ist und die Methode in den ve
rgangenen Jahren deutlich
an Spezifität gewonnen hat.
j) Bei der FSME auf S. 44 wird in renommierten Verö
ffentlichungen eine
Inkubationszeit von im Mindestfall vier Tagen angeg
eben.
k) Bei der Hantavirus-Erkrankung auf S. 53 beruht d
as klinische Bild darauf, dass
eines von fünf Kriterien erfüllt sein muss, wobei e
ines dieser Kriterien wiederum
darin besteht, dass zwei von neun Kriterien erfüllt
sein müssen. Es erscheint
fraglich, ob solche komplexen logischen Konstruktionen alltagstauglich sind.
l) Bei Hepatitis B auf S. 58 wurde der indirekte Labornachweis mittels Anti-HBc-IgM gestrichen. Das Anti-HBc-IgM ist in der Praxis ein
wichtiges Kriterium zur Unterscheidung der akuten von der chronischen HBV-Infektion. Somit beeinträchtigt dieser Wegfall die Entscheidung, ob eine Meldung übermittelt wird (und voraussichtlich auch, ob eine Meldung überhaupt veranlasst wird). Bei der Hepatitis B wird der Parameter „HbeAg“ normalerweise mit großem „B“ geschrieben (s. auch S. 65).
m) Warum ist der krankheitsbedingte Tod bei HUS auf S. 67 nicht im klinischen Bild enthalten? (ergänzend auf S. 68: Warum ist das unspezifische klinische Bild bei HUS nicht in den Übermittlungskategorien B und C enthalten?)
n) Die Trennung von „humaner“ und „zoonotischer“ In
fluenza auf den Seiten 69 bis
72 ist ein gutes Beispiel für eine Komplexierung de
r Falldefinition, deren
Umsetzung auf der Ebene des Gesundheitsamtes große
Probleme durch
Fehleinordnungen
(mit
nachfolgendem
Korrekturbedarf
),
unnötigen
Ermittlungsaufwand ohne Vorliegen einer konkreten G
efährdungssituation und
somit bei der Akzeptanz hervorrufen wird. Mit Blick
auch auf andere
Infektionserkrankungen, bei denen nur eine Meldekat
egorie für unterschiedliche
Spezies vorgesehen ist (vgl. Salmonellen) sollte au
f diese Unterscheidung
verzichtet werden.
o) Der „Nukleinsäurenachweis“ muss in der Überschri
ft beim Marburgfieber auf S. 89
gestrichen werden.
p) Warum werden die „Koplikschen Flecken“ aus dem k
linischen Bild der Masern auf
S. 91 gestrichen?
q) Auf S. 92 gilt als indirekter Masern-Nachweis u.
a. ein IgG-Antikörpernachweis
(
deutliche Änderung zwischen zwei Proben; z.B. ELISA
, NT, IFT). Dieses
Kriterium kann aber auch durch eine Boosterung bei
bestehender Immunität erfüllt
werden.
r) Bei Masern wird auf S. 91/92 nicht zwischen spez
ifischem und unspezifischem
klinischen Bild unterschieden. In der „EU-Box“ auf
S. 93 steht aber, dass es bei
den RKI-Falldefinitionen diese Unterscheidung gibt.
s) Bei Meningokokken auf S. 94 muss die „sieben“ be
i „folgenden Kriterien“ durch
„acht“ ersetzt werden.
t) Bei Injektionsmilzbrand auf S. 97 muss es statt
„eines der drei“ „eines der zwei
Kriterien“ heissen.
u) Die Verwendung des Begriffes „Hepatitis“ auf den Seiten 102 (Ornithose) und 113 (Q-Fieber) ist nicht definiert.
v) Bei Tuberkulose auf S. 130 sollte auch Mykobakterium caprae als eigene Entität innerhalb des übermittlungspflichtigen M.-tuberculosis-Komplex aufgeführt werden. Hintergrund ist die (auch entwicklungsgeschichtliche) Abgrenzbarkeit zwischen M. caprea und M. bovis (Sensibilität gegenüber Pyrazinamid) sowie die ursächliche Bedeutung von M. caprae für das Auftreten von zoonotischen Tuberkulosen in Deutschland (vgl. Kubica T, Rüsch-Gerdes S, Niemann S: Mycobacterium bovis subsp. caprae caused one-third of human M. bovis-associated tuberculosis cases reported in Germany between 1999–2001. J Clin Micro biol 2003;41:3070–3077).
w) Bei Varizellen auf S. 140 sollte Herpes Zoster n
ur als Ausschlusskriterium
aufgeführt werden. Die Beschreibung des klinischen
Bildes des Herpes Zoster
sollte entfallen, um Missverständnissen vorzubeugen
. Gleiches gilt auf S. 141 für
die in den Übermittlungskategorien C und D genannte
„Varicella Zoster
Erkrankung“, die allein durch „Windpocken“ ersetzt
werden (um einer Übermittlung
von Herpes Zoster-Fällen vorzubeugen).
Zusammenfassung
Die vom RKI in Angriff genommene Aktualisierung der
Falldefinitionen wird von Seiten des
BVÖGD zwar prinzipiell begrüßt. Die vorgelegte Fass
ung im Stand vom 23.09.2013 enthält
aber sowohl hinsichtlich der geplanten Inkraftsetzu
ng zum 01.01.2014 als auch in Bezug auf
die inhaltliche Gestaltung zahlreiche kritikwürdige
und überarbeitungspflichtige Aspekte. Die
Kürze der verbleibenden Bearbeitungszeit bedingt na
ch Einschätzung des BVÖGD zudem,
dass eine weitere Abstimmung zwischen den föderalen
Ebenen des ÖGD als auch unter den
Bundesländern zu den Eingaben aus den einzelnen Lan
desmeldestellen, den verschiedenen
Verbänden und den Fachgesellschaften nicht vorgeseh
en ist. Von der kurzen Vorlaufzeit wird auch die Schaffung der fachlichen und technischen Rahmenbedingungen auf der Ebene der kommunalen Gesundheitsämter als primäre Zielgruppe für die Falldefinitionennnegativ beeinflusst. Somit gefährdet das Festhalten an einer Inkraftsetzung zum 01.01.2014 den gesetzlichen Auftrag an das RKI, mittels der Falldefinitionen auf eine Vergleichbarkeit
und epidemiologische Verwertbarkeit der Meldedaten hinzuwirken. Der BVÖGD rät daher
dazu, den Zeitpunkt der Einführung zu überdenken und zu verschieben.
Sofern eine solche Verschiebung erwogen wird, ist der BVÖGD selbstverständlich gerne bereit, den Prozess der Einführung der neuen Falldefinitionen konstruktiv zu begleiten.


Weiterführende Dokumente